1919

Marie Juchacz – Die erste Rede einer Frau im Reichstag

Die SPD-Politikerin Marie Juchacz (1879–1956) war eine der Frauen, die im Januar 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde. Am elften Sitzungstag des neugewählten Parlaments, am 19. Februar 1919, sprach sie dort als erste Parlamentarierin überhaupt. Sie wurde vom Präsidenten der Weimarer Nationalversammlung ganz sachlich und ohne einen Hinweis auf den besonderen historischen Augenblick mit den Worten angekündigt: „Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Juchacz.“
Die Rede von Marie Juchacz dauerte vier Minuten und begann mit den Worten „Meine Herren und Damen!“. Laut Protokoll rief die Rednerin damit große Heiterkeit hervor. Sie betonte dann auch: „Es ist das erstemal, daß in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf“. Außerdem stellte die Rednerin klar: „Ich möchte hier feststellen und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“
Marie Juchacz ging unter anderem auf die kommenden Aufgaben der Politiker und Politikerinnen und die Situation in Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg ein. Ihre Rede wurde von Gelächter und Protestrufen konservativer männlicher Parlamentarier begleitet. Am selben Tag sprachen auch Helene Weber (1881–1962) über die Auswirkungen des Friedensvertrags und Luise Schroeder (1887–1957) über den Reichshaushaltsplan, Marie Lüders (1878–1966) prangerte die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts im Betriebsrätesystem an.
Die in Landsberg an der Warthe aufgewachsene Marie Juchacz ließ sich, was damals noch ungewöhnlich war, von ihrem Mann scheiden und zog 1905 mit zwei kleinen Kindern nach Berlin. Dort trat sie 1908 in die SPD ein. Später wurde sie Mitglied des Parteivorstands und Leiterin des Frauensekretariats. Außerdem übernahm die Politikerin die Redaktion der Zeitschrift Die Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen. Sie gehörte als einzige Frau dem „Ausschuß zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs“ der Nationalversammlung an. Als Abgeordnete widmete sie sich hauptsächlich der Sozialpolitik. Sie trat unter anderem für einen besseren Mütter- und Wöchnerinnenschutz, für Jugendhilfe und eine Änderung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder ein. Als ihre größte sozialpolitische Leistung wird die Gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Dezember 1919 gewertet, als dessen erste Vorsitzende sie bis 1933 tätig war.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Marie Juchacz, zunächst ins Saargebiet, dann ins Elsass, 1941 nach New York. 1949 kehrte sie nach Deutschland zurück und wurde Ehrenvorsitzende der AWO. Sie starb im Alter von 76 Jahren.